„Wird touristisch vermarktet“

Claire Linke über Tschernobyl und ihr fortdauerndes Engagement in Weißrussland

STECKT VOLLER PLÄNE, um den Menschen in den verstrahlten Gebieten Weißrusslands zu helfen: Die Walldorferin Claire Linke. (Foto: Friedrich)

Mörfelden-Walldorf. Am 26. April 1986 ereignete sich der bis dato schwerwiegendste Unfall in einem Kernkraftwerk: Die Katastrophe von Tschernobyl (Ukraine). Leidtragende der hochgradig kontaminierten Fläche waren besonders die Bewohner im Süden und Südosten Weißrusslands.

Am 19. Januar 1991 rollte der erste Hilfskonvoi aus Mörfelden-Walldorf nach Belarus in den dortigen Kreis Bychow. Ein Jahr später empfing die örtliche Friedensinitiative (FI) die ersten Kinder aus den verstrahlten Gebieten, die hier ihre Ferien verbrachten, um sich seelisch und körperlich zu erholen.
Auch 31 Jahre nach der Reaktorkatastrophe hält die Friedensinitiative an ihrem Engagement fest. Über die Entwicklungen vor Ort ist Claire Linke, langjährige Sprecherin der FI, entsetzt: „Die verstrahlten Gebiete werden touristisch vermarktet“, weiß sie, auch der inzwischen mit einem weiteren Sarkophag umhüllte Unglücksreaktor ist eine Touristenattraktion. 
„Tschernobyl wird Stück für Stück aus dem Volksgedächtnis verdrängt, während sich die Strahlung noch immer auf die Gesundheit der Bevölkerung auswirkt“, so Linke, die im Rahmen ihrer Hilfsmission etliche Male nach Weißrussland reiste. Grotesk mutet für sie an, dass Weißrusslands Politik und Wirtschaft intensiv auf Kernkraft setzt. Ein neues AKW im Norden, an der Grenze zu Litauen, steht kurz vor der Fertigstellung und soll vermutlich 2018 ans Netz gehen.
Seit 1992 organisiert die FI Erholungsaufenthalte für Kinder und Jugendliche aus dem Kreis Bychow. Verbrachten zunächst Delegationen strahlenbelasteter junger Weißrussen ihre Ferien in Ober-Seemen und bei Gasteltern der Doppelstadt, hat man nun zu einem Ferienprogramm vor Ort umgeschwenkt. Zum Teil deshalb, weil nicht mehr genügend Gasteltern zur Verfügung stehen.
Das Kindererholungsheim Nadeshda (russisch: Hoffnung) wurde 1994 in Kooperation mit deutschen Hilfsvereinen (unter anderem „Leben nach Tschernobyl“ Frankfurt) gegründet und bietet jährlich über 6000 Menschen einen Kuraufenthalt. Claire Linke möchte einer Schulklasse aus Bychow in diesem Sommer für drei Wochen nach Nadeshda schicken.
Die Unterstützung der Menschen im kontaminierten Bychow trägt heute auch die Handschrift von Sozial- und Entwicklungshilfe. 2000 Euro Spenden aus dem Jahr 2016 hat die FI einer Schule zugesagt, die mit diesem Geld Computer anschaffen wird. Medikamente, Zahnarztstühle, Lehrmittel, Transportfahrzeuge, Rollstühle, etliches an Sach- und finanziellen Leistungen wurden nach Belarus transportiert. Auch der von der FI gegründete Kindergarten für Behinderte wird weiter unterstützt.
„Viele der Kinder dort leiden an Herzproblemen, Autismus oder sind schlicht geistig zurückgeblieben“, so Claire Linke, „die Ärzte haben uns erklärt, dass durch die Strahlenbelastung das Gehirn unterentwickelt ist.“ 
Obwohl nachweislich Leukämie und Schilddrüsenkrebs, Herzkreislauf-, Atemwegs- und Stoffwechselerkrankungen, grauer Star, Muskel- und Skeletterkrankungen, angeborene Anomalien, und ein schwaches Immunsystem die Folgen der Atomkatastrophe sind, tun sich offizielle Stelle schwer, die Erkrankungen rundheraus mit Tschernobyl in Verbindung zu bringen. Die WHO schätzt die Zahl der Krebserkrankungen infolge des Reaktorunfalls bis 2065 auf 41 000 europaweit. In Bychow werden die Vergünstigungen an Strahlenopfer indes heruntergefahren. „Die Zahl der Hilfsbedürftigen sinkt Jahr um Jahr“, so Linke.
Auch im Alter von 78 Jahren will die Walldorferin ihr Engagement für die Menschen in Belarus nicht schmälern, im Gegenteil, auch andere Kapitel ihrer Vergangenheit transparenter machen. Für 2018 plant die FI-Sprecherin, unterstützt von Museumsleiterin Cornelia Rühlig, die Wanderausstellung Trostenez nach Mörfelden-Walldorf zu holen. „Trostenez, eine Gedenkstätte, erinnert an den größte Vernichtungsort in Belarus während der deutschen Besatzungszeit“, erläutert Claire Linke, „zwischen 60 000 und 250 000 Juden wurden dort getötet, verscharrt, später exhumiert und verbrannt.“ (ula)

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