„Notbremse müsste gezogen werden“

Diskussion über Mangel an Hausärzten und andere Probleme im Gesundheitssystem

IM KULTURBAHNHOF diskutierten Nadja Rakowitz vom Verein demokratischer Ärzte und der Allgemeinmediziner Erich Bernhard über Probleme bei der Ärzteversorgung. (Foto: Schwappacher)

Mörfelden-Walldorf. Zu wenig Nachwuchs unter den Allgemeinmedizinern, Konflikte innerhalb der Ärzteschaft, Einflussmöglichkeiten von Kommunen – im Kulturahnhof wurde kontrovers diskutiert, wie sich Probleme des deutschen Gesundheitssystems lösen lassen. Auf dem Podium saßen Erich Bernhard, der zum Jahreswechsel seine Praxis aufgab, ohne einen Nachfolger gefunden zu haben, und Nadja Rakowitz vom Verein demokratischer Ärzte. Eingeladen hatte der DGB-Ortsverband unter der Überschrift „Hausarzt weg, Notarzt weg, was noch?“

Rund zwei Stunden wurde intensiv debattiert und aufgezeigt, wie die Stadt auf eine drohende Unterversorgung reagieren könnte. Die stehe nämlich in zwei Jahren an, wenn weitere Ärzte in den Ruhestand gehen und keine Nachfolger für ihre Praxen finden, betonte Bernhard gleich zu Beginn.
Die Stadt könne versuchen dem entgegenzusteuern, indem sie günstige Darlehen an junge Mediziner vergibt, da diese bei Banken keine Kredite mehr für eine Praxisgründung bekämen. Auch könnte Ärzten bei der Suche nach geeigneten Räumlichkeiten geholfen werden. Bernhard regte weiter Gespräche zwischen der Stadtverwaltung und der Kassenärztlichen Vereinigung an.
„Die Zahl der Ärzte steigt in Deutschland seit 25 Jahren“, erklärte Nadja Rakowitz und widersprach damit der Annahme, es gebe schlicht zu wenige praktizierende Mediziner. Dass dennoch in vielen Regionen ein Mangel an Allgemeinmedizinern herrsche, liege am Konkurrenzkampf unter den Ärzten sowie dem Aufbau des Gesundheitssystems.
Rakowitz kritisierte, dass Hausärzte als Kleinunternehmer immer auch ihre ökonomischen Interessen im Blick haben müssen. Eine Praxis werde so bevorzugt in größeren Städten eröffnet, wo schon jetzt eine Überversorgung herrsche. Ein weiteres Problem sei, dass sich Deutschland den Luxus doppelter Facharztstrukturen leiste. Sowohl im ambulanten als auch im klinischen Bereich sind Fachärzte angesiedelt, dabei seien sie in Krankenhäusern besser aufgehoben.
Gelte die Allgemeinmedizin in England als Königsdisziplin, sei die Ausbildung in Deutschland deutlich schlechter und ein Hausarzt unterhalb von Chirurgen und Radiologen angesiedelt, so die Referentin weiter. Schon während der Ausbildung bekämen die Studenten zu hören, dass die Allgemeinmedizin sich nicht lohne.
„Das schlägt sich im Finanziellen nieder“, ergänzte Bernhard. Wer heute von der Universität komme, wolle ein entsprechendes Einkommen und geregelte Arbeitszeiten, am liebsten in einem Angestelltenverhältnis, beklagte der Ruheständler weiter. Junge Ärzte gingen daher lieber in die Forschung, ins Ausland oder in Krankenhäuser.
Das Argument ließ Rakowitz nicht gelten. Ein Monatslohn von rund 10 000 Euro sei deutlich mehr als das, was die meisten Patienten verdienten. Den Wunsch nach einem geregelten Arbeitstag konnte sie nachvollziehen.
Eine Alternative zum gängigen Hausarztmodell sei daher die Gründung von Ärztehäusern, in denen eine Reihe Mediziner zusammenarbeitet und sich die Kosten für Geräte, Miete und Mitarbeiter teile. Der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung sehe vor, dass solche medizinischen Versorgungszentren auch von Kommunen betrieben werden dürfen. „Finanziert werden sollten sie aber von der Kassenärztlichen Vereinigung, denn die hat einen Auftrag zur Sicherstellung der Versorgung“, betonte Rakowitz.
Geld genug sei im Topf des Gesundheitssektors vorhanden, führte Moderator Erich Schaffner aus. Die Kosten für Wirkstoffe machten einen winzigen Teil der Medikamentenpreise aus, das meiste Geld investiere die Pharmaindustrie in überflüssiges Marketing und nicht wie immer behauptet in die Erforschung neuer Wirkstoffe. „Mit schwedischen Preisen für Medikamente könnten in Deutschland sieben Milliarden Euro eingespart werden“, ergänzte Rakowitz.
Bei der ganzen Debatte gehe es um viel mehr als fehlende Hausärzte in Mörfelden-Walldorf, sagte sie zum Ende der Veranstaltung. „Es müsste die Notbremse gezogen werden, um eine weitere Privatisierung und Verschlechterungen bei der Gesundheitsversorgung zu verhindern.“ Zwar teilte Erich Bernhard nicht alle Positionen von Nadja Rakowitz, aber auch er forderte dazu auf, Druck bei der Politik zu machen und die Diskussion über die Ärzteversorgung am laufen zu halten. (seb)

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