Jetzt muss alles auf den Müll

Stadt und Vermieter machen dem pflegebedürftigen Ehepaar Paproth zu schaffen

AUCH DIE MARKISE muss weg: Erwin Paproth zieht nach vielen Jahren krankheitsbedingt aus seiner Wohnung aus. (Foto: Scherer)

Kelsterbach. Erwin Paproth versteht die Welt nicht mehr. Eigentlich hätte alles so einfach laufen können: Seine Wohnung ist fristgerecht gekündigt, es haben sich interessierte Nachbarn gefunden, die eine größere Wohnung suchen und sogar die gesamte Einrichtung übernommen hätten. „Allerdings habe ich nicht mit unserer Bürokratie gerechnet“, sagt Paproth. Doch seine Vorstellung von erfolgreicher Nachvermietung entsprach nicht der der Eigentümerin und der Stadt, auf deren Liste schon seit Jahren Interessenten stehen, die auf eine entsprechende Wohnung warten. Es wäre alles so einfach und effektiv gewesen, aber Nein...

Seit über 50 Jahren leben der 78-Jährige und seine zwei Jahre jüngere Frau Aloisia zur Miete in einem Hochhaus in der Rüsselsheimer Straße 113. Eine Urkunde, Glückwünsche und einen Präsentkorb habe es zum Jubiläum von der Wohnungsbaugesellschaft Nassauischen Heimstätte (NH) gegeben, erinnert sich Paproth. Doch nun muss das Paar aus gesundheitlichen Gründen schnell ausziehen und die geliebte Wohnung im 8. Stock aufgeben. „Wir haben hier immer gern gewohnt. Wer will denn hier freiwillig weg?“, fragt Paproth und zeigt den herrlichen Ausblick auf das Mainufer und den Taunus.
Seit fast fünf Jahren pflegt Erwin Paproth seine schwerkranke Frau, doch jetzt ist auch er plötzlich krank geworden. „Es geht einfach nicht mehr“, bedauert der gebürtige Gelsenkirchener, der in der Zeche gearbeitet hatte und nach deren Schließung nach Kelsterbach kam. Rund 30 Jahre lang arbeitete Paproth bei der Glanzstoff, die ihm die Wohnung – damals noch eine Werkswohnung – in der Rüsselsheimer Straße vermittelte. „Doch nun müssen wir in ein Pflegeheim ziehen.“
Nach einem Aufenthalt in der Notaufnahme im Dezember wusste Paproth, dass es nicht mehr wie bisher weitergehen kann. Er kündigte die Wohnung Anfang Januar, die NH bestätigt die Kündigung zum 31. März.
 Es habe sich schnell bei den Nachbarn herumgesprochen, dass sie ausziehen. Zwei Familien mit kleinen Kindern hätten sogleich Interesse angemeldet, da ihre Wohnungen zu klein seien. Beide Familien hätten sich die Wohnung angeschaut und gesagt, dass man alles stehen lassen könne, sie würden die Möbel übernehmen oder sich um die Entsorgung kümmern. „Einer wollte sogar noch die Märzmiete übernehmen“, so Paproth, denn er und seine Frau ziehen bereits am 1. März in das Pflegeheim.
„Prima, wir haben Nachmieter“, dachte sich der Rentner. Die Wohnung ist knapp 90 Quadratmeter groß, hat vier Zimmer mit gut erhaltenen Möbeln, darunter eine Einbauküche, einen großen Wohnzimmer- sowie einen Schlafzimmerschrank und eine Markise über dem Balkon.
Nach einer Besichtigung des NH-Kundenbetreuers kam die Ernüchterung, denn laut Mietvertrag muss die komplette Wohnung leer geräumt sowie die Tapeten an Wand und Decke entfernt werden. Zwei Seiten lang sei die Liste der auszuführenden Arbeiten, erklärt Paproth. Zudem habe die NH darauf hingewiesen, dass die Stadt das Belegungsrecht für die Wohnung habe und über Nachmieter entscheide.
Wie der 78-Jährige in seinem Zustand die Räumung der Wohnung schaffen soll, weiß er nicht. Es bleiben nicht mehr ganz drei Wochen bis zum Umzug. Kein Gespräch habe geholfen. Die Gesetze und Verordnungen müssten eingehalten werden, hieß es. Nun müssen die beiden Söhne in ihrer Freizeit helfen, müssen die Tapeten von den Wänden lösen, die Möbel auseinandernehmen und wegwerfen.
Er selbst könne aufgrund einer Augenmuskellähmung, so Paproth, nicht einmal mehr Auto fahren.
Eine junge Familie, die dann hier einziehe, müsse sich alles neu kaufen. „Und unsere teuren Möbel müssen auf den Müll“, so Paproth, der nicht verstehen kann, warum Stadt und NH der Bürokratie Vorrang gegenüber einem Notfall geben.
Jörg Ritzkowsky vom Fachbereich Liegenschaften, Sicherheit und Ordnung, bestätigt dem Freitags-Anzeiger, dass die Stadt das Belegungsrecht für die Wohnung habe. Liege der Stadt die Freimeldung einer Wohnung vor – im vorliegenden Fall sei dies am 25. Januar geschehen – ermittle das städtische Wohnungsamt die in Frage kommenden Wohnungssuchenden. Berücksichtigt würden dabei neben Größe, Lage, Ausstattung und Miethöhe der Wohnung auch die Dringlichkeit der Bewerber und wie lange diese schon auf der Suche seien. Dem Magistrat würde dann ein Vorschlag, mit Begründung, zur Entscheidung vorgelegt.
Da aktuell viele Menschen eine Wohnung in Kelsterbach suchten und die Wartezeiten entsprechend lang seien, könne man die Umstände der Vormieter in der Regel nicht berücksichtigen. „Gerade für derartige große Wohnungen bestehen zum Teil Wartezeiten von mehreren Jahren“, sagt Jörg Ritzkowsky.
Sollten sich Familien, wie in der Rüsselsheimer Straße 113, für die Wohnung direkt bewerben, könnten deren Bewerbungen beim Vorschlag zur Vergabe berücksichtigt werden – wenn sie in Bezug auf die Dauer der Wohnungssuche und der Dringlichkeiten mit den anderen Haushalten vergleichbar seien.
Die Umstände der Wohnungsrückgabe dagegen würden auf vertraglichen Vereinbarungen beruhen. Sie müssten zwischen Mieter und Vermieter geklärt werden, betonte Ritzkowsky.
Wie Jens Duffner, Leiter der NH-Unternehmenskommunikation erklärte, sei vertraglich festgehalten, wie die Wohnung beim Auszug hinterlassen werden müsse. Darauf weise man die Mieter auch beim Einzug hin. Duffner bestätigte, dass das Belegungsrecht für die besagte Wohnung bis Ende 2077 bei der Stadt liege. Die Wohnung habe man am 21. Januar der Stadt als frei gemeldet. Von dieser bekomme man bis zu zehn Nachmietervorschläge zugesandt, allerdings seien bis dato noch keine Vorschläge bei der NH eingegangen. „Wir dürfen unsererseits die Wohnung gar nicht an einen beliebigen Nachbarn vermieten“, betont Duffner. (nad)

Eigene Bewertung: Keine Durchschnitt: 5 (7 Bewertungen)

HerunterladenQR Code URL: https://www.freitags-anzeiger.de/18316


X