Wer wirft Steine gegen diese Fotos?

Zerstörungen am Horváth-Zentrum berühren Teilnehmer einer Vortragsveranstaltung

WER TUT SO ETWAS? Cornelia Rühlig und Jugendliche brachten am Horváth-Zentrum eine Tafel an, mit der auf die Zerstörung der Glasfenster reagiert wird. (Foto: Martin)

Mörfelden-Walldorf. Junge Leute aus der Naturfreundejugend Hessen waren am Samstag dabei, als die KZ-Überlebende Edith Erbrich im Horváth-Zentrum von dem großen Leid berichtete, das sie als Sechsjährige während der Nazi-Diktatur und im KZ erfuhr. 

Cornelia Rühlig, Leiterin der Margit-Horváth-Stiftung, hielt eine Ansprache, in der sie die Zerstörung schilderte, die am 2. Februar entstanden war, als Unbekannte mit einer Zwille Steine auf Glasscheiben des Horváth-Zentrums geschossen hatten (wir berichteten). Mit dem splitternden Glas war auch das großformatige Foto der in dem KZ-Außenlager inhaftierten Szidónia (Sylvia) Rosenberg zerstört worden, einer von damals 1700 jüdischen Ungarinnen, die 1944 unter den Qualen der Zwangsarbeit zu überleben versuchten. 
Dies berührte die versammelten Jugendlichen, ihre Betreuer sowie auch Edith Erbrich tief. Es schien, als werde die geschundene und gedemütigte Szidónia Rosenberg, die vom Außenlager Walldorf später ins KZ Bergen-Belsen deportiert wurde, durch Vandalismus im Jahr 2018 erneut ihrer Menschenwürde beraubt.
 Mitglieder der Naturfreundejugend, die aus ganz Hessen ins Horváth-Zentrum gereist waren, referierten Auszüge aus Szidónia Rosenbergs Leben und Leiden, bevor gemeinschaftlich ein Schild vor dem Horváth-Zentrum aufgestellt wurde, auf dem unter Angabe einer Kontaktnummer geschrieben steht: „Wer wirft mit Steinen gegen Fotos von Frauen, die in der Nazi-Zeit von der SS geprügelt wurden? Wir möchten gerne mit Ihnen sprechen.“ Cornelia Rühlig sagte sachlich: „Die Polizei und auch wir tun alles, damit diejenigen, die so etwas anrichten, ermittelt werden können.“
Im Inneren des Zentrums berichtete Edith Erbrich von ihren Erinnerungen als Tochter jüdisch-katholischer Eltern in Frankfurt. Sie sagte: „Noch heute frage ich mich manchmal, ob ich von Menschen oder von Bestien sprechen muss, wenn ich an das Leid denke, das meiner Familie und vielen anderen durch die Nazis zugefügt wurde.“ 
Edith Erbrich war ein Mädchen von sechs Jahren, das den Schrecken des Krieges mit Fliegeralarm, mit dem Verlust des Zuhauses in der Frankfurter Ostendstraße beim Bombenangriff („Als Juden durften wir nicht in die Bunker, sondern saßen im Keller“) erleben musste. Angst, Entsetzen, physischer und psychischer Schmerz sowie Demütigung, Hunger und Frieren waren ihre Begleiter. „In der Ostendstraße wurden wir verschüttet und nur Dank meines Vaters und eines weiteren Mannes gelang es uns, aus den Trümmern zu kommen. Die Ostendstraße stand in Flammen, Menschen irrten als brennende Fackeln umher. Es war furchtbar.“ 
Im Saal lauschten die jungen Zuhörer ergriffen und aufmerksam dem Bericht der alten Dame: Das Grauen, das mit der Vernichtungsmaschinerie der Nazis über zig Millionen Menschen kam, an die Jugend weiterzugeben, sie einzubeziehen in die Aufarbeitung, so dass sie Verantwortung übernehmen und sich dergleichen nie wiederholt, ist zentrales Anliegen der Horváth-Stiftung. 
Die Jugendgruppe, die an diesem Samstag Gast war, ist eine von vielen, die jährlich Berichten letzter Zeitzeugen zuhört und Einblick in die Überreste des KZ-Außenlagers bekommt. 
Edith Erbrich erzählte vom Schrecken im KZ Theresienstadt, in das sie, ihre Schwester und ihr Vater am 14. Februar 1945, sechs Wochen bevor die Amerikaner in Frankfurt waren, deportiert wurden. „Am 27. Januar war Auschwitz befreit worden, doch es gingen immer noch Transporte“, so Erbrich. Nach fünf Tagen, eingepfercht im Viehwaggon, kam sie, getrennt von der Familie, in Theresienstadt an. Bis zum 8. Mai, dem Tag der Kapitulation, währte ihr Grauen. Aus Akten der SS ging hervor, dass sie am 9. Mai für einen Todestransport nach Auschwitz vorgesehen war. „Dann würde ich heute nicht vor Ihnen sitzen“, sagte Edith Erbrich. (cha)

Eigene Bewertung: Keine Durchschnitt: 5 (1 Bewertung)

HerunterladenQR Code URL: https://www.freitags-anzeiger.de/28259


X