NS-Opfer aus der Unterschicht

Aktion Toleranz gedenkt der Pogrome 1938 und erinnert an nicht anerkannte Randgruppe

AN DIE BIS HEUTE NICHT als Opfergruppe anerkannten sogenannten Asozialen erinnerte die Aktion Toleranz bei der Kundgebung am Gedenkstein in der Langgasse. (Foto: Schwappacher)

Mörfelden-Walldorf (seb). Zu jeder bürgerlichen Gesellschaft gehören Menschen am sozialen Rand. Sie gehen keinem geregelten Beruf nach, sind ohne festen Wohnsitz, haben keinen gradlinigen Lebenslauf vorzuweisen. Nachdem die Nationalsozialisten die Macht übernahmen und ihre Ideologie zu einem totalitären System ausbauten, wurde gegen solche Menschen drastisch vorgegangen. Mindestens 70 000 von ihnen wurden in Konzentrationslager gesperrt und mussten unter brutalen Bedingungen Zwangsarbeit leisten. Treffen konnte es jeden, der im Verdacht stand, die Allgemeinheit zu schädigen und der sich nicht im Sinne der Nazis einbrachte.

 

An diese oftmals vergessene Opfergruppe erinnerte die Aktion Toleranz anlässlich des Jahrestags der Pogromnacht von 1938. Am Gedenkstein für die einstige Synagoge blickte Bodo Kolbe zurück in die Geschichte und berichtete, wie nach dem 30-jährigen Krieg hunderttausende Menschen auf der Straße lebten und sich entwurzelt zurechtfinden mussten. In Armenhäusern eingewiesen, mussten sie niedere Arbeiten verrichten, sagte Kolbe: „Den Gewinn steckten andere ein.“
Die Faschisten waren also nicht die ersten, die die arme Unterschicht in Arbeit zwangen. Doch zeigten die Nazis dabei eine neue Qualität und besondere Gründlichkeit, wie Dieter Burmeister ausführte. Richtlinien und Gesetze wurden erlassen, in denen man von „Asozialen“ sprach. Bettler, Landstreicher und Trinker fielen darunter. Aber auch Menschen, die sich der Arbeit entzogen, ansteckende Krankheiten hatten und nicht mit Behörden kooperierten. 
An eines der vielen Schicksale erinnerte Renate Burmeister. Wegen „Bummelschichten“ und angeblicher Sabotage wurde Johan Lemmert 1940 zum ersten Mal verhaftet. Zwar kam er bald wieder frei, wurde aber später erneut inhaftiert und in ein KZ überstellt. Die Gestapo sprach von „volksschädigendem Verhalten“. 1942 starb Johan Lemmert im KZ.
Vom Leben der Österreicherin Marianne Scharinger berichtete Gaby Schuster auf der Gedenkveranstaltung. In einer wirtschaftlich angespannten Lage ließ die Frau Abtreibungen durchführen, wurde daraufhin vier Mal verurteilt und schließlich in einem KZ inhaftiert.
Als einen „Arbeitsscheuen“ verhafteten die Nazis Josef Feller und wiesen ihn ins KZ ein. Nach Kriegsende stellte er einen Antrag auf Entschädigung, sagte Rosemarie Becker von der Aktion Toleranz. Auch wenn vermeintliche „Asoziale“ keinen Anspruch darauf hatten, gestand man ihm für seine siebenjährige Haft die Summe von rund 6100 Mark zu.
Dennoch gilt, dass die mindestens 70 000 Betroffenen bis heute nicht als Opfergruppe anerkannt sind, betonte Nina Weller-Kolbe zum Abschluss. Da sie nicht aus politischen, rassistischen, weltanschaulichen oder religiösen Gründen verfolgt und ermordet wurden, gestehe man ihnen diesen Status nicht zu.
Dabei komme es längst nicht mehr auf eine finanzielle Entschädigung an, da die meisten der Betroffenen vermutlich tot sind, sagte Weller-Kolbe. Vielmehr gehe es darum, sie in die Erinnerungskultur einzubeziehen. Ihren Kindern und Enkeln würde es viel bedeuten, würde man endlich klarstellen, dass ihre Familienangehörigen zu Unrecht im KZ waren.
Dafür setzt sich Frank Nonnenmacher ein, der am 16. Januar für einen Vortrag im Kulturbahnhof zu Gast ist. Eine von ihm gestartete Petition zielt auf einen Beschluss des Bundestags ab, um die Gruppe der vermeintlichen „Asozialen“ als Opfer anzuerkennen. 
Nach den Redebeiträgen gedachten die Besucher mit Blumen der NS-Opfer. Bürgermeister Heinz-Peter Becker, Erster Stadtrat Burkhard Ziegler und Stadtverordnetenvorsteher Werner Schmidt legten einen Kranz am Gedenkstein nieder. 

 

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