Auftakt der physischen Vernichtung

Juristische Aspekte der Judenverfolgung bei Gedenkkundgebung thematisiert

GEDENKVERANSTALTUNG: Nach der Kundgebung wurden Blumen für die Opfer des Faschismus und des Pogroms vom 9. November 1938 niedergelegt. (Foto: Schwappacher)

Mörfelden-Walldorf. Bis es zu Weltkrieg und Holocaust kommen konnte, musste nach der Machtergreifung von 1933 ein „Weg der Brutalisierung“ zurückgelegt werden, erklärte Wolfgang Form bei der Kundgebung zum Gedenken an die Pogrom-Nacht vom 9. November 1938.
 

Form, der als Projekt-Koordinator des Internationalen Forschungs- und Dokumentationszentrums Kriegsverbrecherprozesse an der Philipps-Universität Marburg arbeitet, erinnerte am Freitag daran, dass antisemitische Einstellungen in Deutschland schon Ende des 19. Jahrhunderts weit verbreitet waren. „Auch Rassismus war damals schon an der Tagesordnung“, so Form, der auf Einladung der Aktion Toleranz juristische Aspekte der Judenverfolgung thematisierte.
Ein erster Wendepunkt sei dabei das Berufsbeamtengesetz vom 7. April 1933 gewesen. Paragraph 3 des Gesetzes legte etwa fest, dass „Beamte nicht arischer Abstammung“ entlassen werden konnten.
Mit den Nürnberger Gesetzen, die im September 1935 verabschiedet wurden, habe man weiter alles dafür getan, ganze Bevölkerungsgruppen aus der so genannten „Volksgemeinschaft“ auszuschließen. Wer fortan nicht als „Reichsbürger“ galt, hatte es schwer und konnte per Gesetz ausgegrenzt und diskriminiert werden.
Beamte legten nun Juden‧karteien an, führte Form aus. Mit intimen Schnüffeleien versuchten Nazis zu belegen, bei wem es sich nicht um einen Arier handelte. 1938 entzogen die Faschisten der israelischen Gemeinde den Status als Körperschaft öffentlichen Rechts, bald darauf mussten Juden den Vornamen Israel oder Sara annehmen.
All diese Gesetze und Verordnungen formulierten Juristen, betonte Form. So halfen sie über die Jahre, die deutsche Bevölkerung auf die Pogrome von 1938 einzustimmen. „Es war der Auftakt der physischen Vernichtung“, führte der Referent weiter aus.
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges habe es hunderte Verfahren wegen der Pogrome gegeben, sagte Form. Die Urteile seien aber ernüchternd ausgefallen. Im Verlauf der Pogrome verloren etwa 400 Menschen ihr Leben, mehr als 1400 Synagogen und andere Versammlungsräume brannten nieder. Tausende Geschäfte, Wohnhäuser und jüdische Friedhöfe wurden zerstört. Dennoch habe es nur Strafen von maximal einem Jahr gegeben. „Das ist skandalös“, kommentierte Form die Urteile.
Zum Ende seiner Rede erinnerte er daran, dass es auf der Welt viele Orte gebe, an denen es zu Völkermorden kam. Oft fange es mit Ausgrenzungen an. Erst vor wenigen Tagen sei es in Frankfurt zu einem Vorfall gekommen, bei dem ein Mensch nur aufgrund seiner Hautfarbe von Polizisten gedemütigt, geschlagen und schließlich in Handschellen abgeführt worden sei. Einem solchen Rassismus dürfe man keinen Platz einräumen, machte Form klar.
Auf eine Kontinuität unter den deutschen Juristen wies Nina Weller-Kolbe von der Aktion Toleranz hin. Keiner, der an antisemitischen und rassistischen NS-Gesetzen mitgearbeitet habe, sei nach 1945 verurteilt worden. Stattdessen konnten viele weiter ihrem Beruf nachgehen. Eine erfreuliche Ausnahme stelle Fritz Bauer dar, der einen entscheidenden Beitrag zu den Frankfurter Auschwitzprozessen leistete.
 Ein weiterer Außenseiter sei der Jurist Heinz Düx gewesen. Doch leider gerieten diese Verdienste mehr und mehr in Vergessenheit. Um an die Arbeit von Düx zu erinnern, zeigte die Aktion Toleranz nach der Kundgebung den Film „Der Einzelgänger“ über Düx, der während des Frankfurter Auschwitzprozesses als Untersuchungsrichter arbeitete.
Um an die Opfer der Pogromnacht zu erinnern, legten die Besucher der Kundgebung sowie Bürgermeister Heinz-Peter Becker (SPD) und der stellvertretende Stadtverordnetenvorsteher Berndfried Lupus (SPD) Blumen am Gedenkstein in der Langgasse nieder. (seb)

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