80 Jahre Wannseekonferenz: Horváth-Zentrum zeigt Ausstellung

Persönliche Schicksale ermordeter Juden stehen im Mittelpunkt

„Pass du auf sie auf, bis ich zurückkomme“: Mit diesen Worten hatte Trude Oppenheimer-van Bingen vor ihrer Deportation in das Vernichtungslager Sobibor ihre Puppe einer Freundin anvertraut. Cornelia Rühlig präsentiert das Spielzeug, das in der Ausstellung im Horváth-Zentrum zu sehen ist. (Foto: Koch)

Mörfelden-Walldorf (ako). Eine außergewöhnliche Ausstellung über persönliche Opferschicksale im Holocaust ist von Donnerstag, 20. Januar, an im Horváth-Zentrum zu sehen. Geöffnet ist sie bis 27. Januar täglich von 14 bis 20 Uhr. Aufgrund des Pandemiegeschehens wird die Schau in zwei Etappen eröffnet – um 15 und 16 Uhr. 

Die Margit-Horváth-Stiftung hat die Ausstellung zum 80. Jahrestag der Wannseekonferenz, 20. Januar 1942, organisiert. Damals hatten sich am Berliner Wannsee Vertreter verschiedener Institutionen des NS-Regimes unter der Leitung von Reinhard Heydrich, ein enger Mitarbeiter von SS-Chef Heinrich Himmler, getroffen. Der von NS-Deutschland staatlich organisierte Massenmord an den Juden Europas war längst beschlossen und bereits in vollem Gange. Jedoch lief das Töten bislang weitgehend unkoordiniert ab.
Hier setzte die Wannseekonferenz an, welche die Organisation eines industriellen Massenmords entscheidend vorbereitete, bei dem die staatlichen Organe unter der Federführung der SS fortan Hand in Hand arbeiteten. Humanitäre oder moralische Probleme sahen die Nazis nicht. Ihre Sorgen galten nur einer möglichst effektiven Organisation des Massenmords. Die Opfer der NS-Diktatur wurden von dieser entmenschlicht. Den Konferenzteilnehmern wurden Zahlenkolonnen präsentiert, die SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann zusammengetragen hatte. Die Versammlung trug entscheidend dazu bei, dass sich das Tempo des Tötens massiv beschleunigte – in wenigen Jahren wurden sechs von elf Millionen Juden Europas ermordet, fünf Millionen überlebten nur aufgrund der deutschen Niederlage im Zweiten Weltkrieg. 

Schicksal der Familie Oppenheimer-van Bingen aus Mörfelden erzählt

Die Ausstellung im Horváth-Zentrum nun befasst sich zwar auch mit der Konferenz und ordnet diese historisch ein. Im Fokus stehen aber die persönlichen Geschichten von Holocaust-Opfern. „Die Ausstellung bezieht sich vor allem auf zwei jüdische Gruppen, die im Holocaust ermordet wurden“, erläutert Cornelia Rühlig, Vorstandsvorsitzende der Margit-Horváth-Stiftung, welche die Ausstellung zusammen mit Christina Röll konzipiert hat. So geht es insbesondere um die ungarischen Jüdinnen der KZ-Außenstelle Walldorf und die jüdische Familie Oppenheimer-van Bingen. Der Entmenschlichung der Opfer durch die Nazis werden in der Ausstellung bewusst die persönlichen Geschichten der Ermordeten entgegengesetzt.
Berta Oppenheimer-van Bingen stammt aus Mörfelden und konnte sich mit ihrer Familie, ihrem Mann, dem Sohn und Tochter Trude, zunächst vor den Nazis in die Niederlande retten. Doch nach der deutschen Besetzung des Landes geriet die Familie in deren Fänge. Gemeinsam mit ihren Kindern wurde die Mutter über ein Durchgangslager 1943 in das Vernichtungslager Sobibor deportiert und im selben Jahr ermordet. Ihr Mann Bernhard war schon 1940 in Nordholland ermordet worden. In der Ausstellung wird eine Großaufnahme des Aschehügels von Sobibor gezeigt. An dem Gedenkort wird an die 250 000 dort ermordeten Menschen gedacht. Außerdem wird die Puppe von Trude Oppenheimer-van Bingen gezeigt. Das kleine Mädchen konnte die große Puppe nicht mit in die Deportationszüge nehmen. Die Mutter forderte Trude deshalb auf, die Puppe ihrer Freundin zu geben. Trude überreichte sie der Freundin mit den Worten: „Pass du auf sie auf, bis ich zurückkomme.“
Ein weiterer Teil der Ausstellung befasst sich mit der Ermordung von 34 nicht mehr arbeitsfähigen Inhaftierten des KZ-Außenlagers Walldorf. Die Nazis teilten ihnen mit, sie würden per Lkw auf eine Krankenstation gebracht – stattdessen wurden sie in der Nähe des Lagers erschossen. Unter den Ermordeten war auch Margit Horváths Tante Jolán Spéter. 

Anmelden für den Besuch der Ausstellung 

Im Rahmen der Ausstellung hat die Stiftung ein umfangreiches Begleitprogramm im Horváth-Zentrum zusammengestellt. Informationen hierzu sind im Internet unter: margit-horvath.de zu finden. Hier befindet sich ein Link zur Anmeldung für die Ausstellung und Begleitveranstaltungen. Diese wird auch unter Telefon 05105 4 06 33 77 angenommen. Da sich aktuell nur 20 Personen gleichzeitig im Horváth-Zentrum aufhalten dürfen, sind Anmeldungen empfehlenswert. Es gilt die 2G-plus-Regel (geboostert oder zwei Impfungen plus aktuellem Test) sowie Maskenpflicht.
Als Ehrengast wird Marianne Buismann aus den Niederlanden erwartet, die der Ausstellung die Puppe vermittelt hat. Neben öffentlichen Führungen, Dialoggesprächen und Workshops wird dem Publikum zudem täglich die Teilnahme an einer Lesung angeboten. Vorleser verschiedener Generationen werden den Text „Die Zertrennung“ von Salmen Gradowski präsentieren. Gradowski war von den Nazis als polnischer Jude 1942 nach Auschwitz deportiert worden. Hier wurde er dem Sonderkommando der Häftlinge zugeteilt, welches in den Krematorien und Gaskammern eingesetzt wurde. Gradowskis Familie wurde in Auschwitz ermordet. Er selbst wurde im Oktober 1944 bei einem Aufstand gegen die SS von dieser erschossen. Zuvor hatte er seine schrecklichen Beobachtungen aufgeschrieben und im Lager so gut versteckt, dass sie erst nach der Befreiung gefunden wurden.

"Demokratie darf nicht verächtlich gemacht werden"

„Der Text bewegt einen sehr und lässt einen fassungslos zurück“, so Stiftungsvorstandsmitglied Margrit Geffert-Holl, die zu den Vorleserinnen gehört. Gradowski schreibe sehr plastisch, Leser und Zuhörer könnten mit dem Autor empathisch mitempfinden. „Er gibt den Opfern ein Gesicht.“ Somit erreicht Gradowski genau das, was die Nazis verhindern wollten: Die NS-Diktatur wollte nicht, dass sich jemand an die Ermordeten erinnert. An der Lesung beteiligt sich auch Florian von Flotow aus Mörfelden-Walldorf. Der 18-jährige Schüler, der die 12. Klasse der Bertha-von-Suttner-Schule besucht, wollte sich mit der menschenverachtenden NS-Diktatur und dem staatlich organisierten Massenmord an der jüdischen Bevölkerung Europas auch über den Schulunterricht hinaus befassen. Gradowskis Text habe ihn berührt. „Millionen von Menschen wurden von ihren Familien getrennt, zu Nummern degradiert und schließlich ermordet.“ Ihm habe der Text plastisch vor Augen geführt, wie wichtig und wertvoll Demokratie und Menschenwürde sind und was eine menschenverachtende Diktatur zu bedeuten hat. Die Demokratie dürfe nicht verächtlich gemacht werden.

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