Schulen: Hoher Krankenstand und Fluktuation

Schüler, Eltern und Lehrer kritisieren massiven Unterrichtsausfall im Kreis Groß-Gerau

Sprachen über das seit Jahren sich abzeichnende Problem des Lehrermangels an den Schulen: Arno Muth (von links), Robert Hottinger, Fiete Müller, Maike Hanewald, Stefan Stein, Martin Einsiedel und Oliver Geisler. (Foto: Koslowski)

Rüsselsheim (rko). Die Zahlen sind durchaus erschreckend: An sechs weiterführenden Schulen des Kreises Groß-Gerau sind bei einer Umfrage in der ersten Schulwoche im Januar 1218 Fehlstunden von Fachlehrern eruiert worden. 734 Stunden konnten etwa durch Kollegen vertreten werden, 484 aber entfielen ganz. Hochgerechnet auf die 14 weiterführenden Schulen des Kreises fielen somit 20 Prozent des Unterrichts aus oder wurden vertreten.

Diese Zahlen haben Kreisschulsprecher Maike Hanewald und Fiete Müller unlängst bei einem Gespräch mit Lehrern und Vertretern der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) vorgelegt, zu dem der Vorsitzende des Kreiselternbeirats, Stefan Stein, nach Rüsselsheim ins „Rind“ geladen hatte. Thema: Unterrichtsausfall und Lehrermangel – was bereits seit Jahren diskutiert werde. „In diesem Jahr ist der Zustand nicht mehr tragbar“, stellt Stein indes bei dem Gespräch fest. Hanewald befürchtet gar, dass das Schulsystem zusammenbreche. Dem müsse massiv und schnell entgegengetreten werden. Jetzt gelte es, sich mit den Schülern zu solidarisieren und den Lehrern direkt zu helfen, fordert Stein. Letztere rieben sich mit den Vertretungsstunden auf, dafür müsse die Öffentlichkeit sensibilisiert werden. Folglich wollten Kreiselternbeirat, Lehrer- und Schülervertretung über das Pressegespräch die Öffentlichkeit auf die Problematik an den Schulen aufmerksam machen. 

Magels Lehrer wird mit Studenten und Quereinsteigern für den Unterricht vorliebgenommen

Die Zahlen hatte die Schülervertretung übrigens selbst eruiert. Wie Stein berichtet, versuche der Kreiselternbeirat seit Jahren, auf Landesebene Zahlen zu erhalten – vergeblich. Das Schulamt behaupte, dass keine Zahlen vorlägen. Nun diskutieren Stein, Hanewald und Müller mit Martin Einsiedel (Lehrer an der Alexander von Humboldt-Schule/Rüsselsheim, Kreisvorstand GEW Groß-Gerau), Robert Hottinger (Lehrer an der Immanuel-Kant-Schule/Rüsselsheim, Kreisvorstand GEW Groß-Gerau), Oliver Geisler und Arno Muth (beide Kreiselternbeirat) die Ursachen des Unterrichtsausfalls und des Lehrermangels. Einsiedel berichtet von einem hohen Krankenstand und einer ebenso hohen Fluktuation an den Schulen. Es gebe derzeit zu wenig Lehrer auf dem Markt, stellt er fest. Deshalb werde mit Studenten und Quereinsteigern für den Unterricht vorliebgenommen. Hottinger weiß von einem hohen Anteil befristeter Verträge. „Die sind dann von heute auf morgen wieder weg“, schildert er seine Erfahrungen. 
Für Einsiedel ist das ein Teufelskreis: Mit den zusätzlichen Vertretungsstunden sei es den übrig gebliebenen Lehrern kaum noch möglich, ihr Pensum zu schaffen. In Hessen hätten die Lehrer die höchste Pflichtstundenzahl; wer es sich finanziell leisten könne, gehe in Teilzeit, um die Qualität seines Unterrichts aufrecht zu erhalten und nicht zu „verbrennen“. Dem Lehrpersonal würden inzwischen immer mehr Aufgaben aufgebürdet; die Inklusion beispielsweise gehe aufgrund der Differenzierung des Unterrichts mit einem Mehraufwand einher, wofür die Lehrer aber keine Stundenentlastung erhielten. Und die Intensivklassen mit geflüchteten Kindern verschärften die Problematik zusätzlich. Geisler zufolge müsse mittlerweile etwa ein Drittel der Wochenstunden für Bürostunden in Anspruch genommen werden. 

Wertschätzung für die Schulbildung ist abhandengekommen

Der nun so deutlich werdende Lehrermangel sei über Jahre hinweg entstanden, so Einsiedel. Es gebe zu wenig Studienplätze und nicht genügend Stellen. Hottinger ergänzt, dass Schüler den Lehrerberuf zunehmend unattraktiv fänden. Und Stein ist der Ansicht, die Wertschätzung für die Schulbildung sei abhandengekommen. In seiner Jugend sei der Lehrer noch eine hoch angesehene Persönlichkeit gewesen. Heute raten offenbar sogar Lehramtsstudenten vom Lehrerberuf ab. Er solle bloß nicht Lehrer werden, habe man ihm aus dem Freundeskreis geraten, berichtet etwa Müller. 
Hanewald erzählt, dass an den Schulen in der Unterstufe noch versucht werde, die Situation zu retten. Die Anzahl der Vertretungsstunden sei hier potenziell höher als bei den Abschlussjahrgängen, den Neunt- und Zehntklässlern sowie den Abiturjahrgängen. Diese fielen hinten runter. Sie könnten doch schon alleine selbstständig arbeiten, hieße es. Dabei seien nicht alle Schüler in der Lage, sich den Lehrstoff selbst anzueignen. Dieser bleibe dann oft liegen, weil die Schüler ihn nicht verstünden, bestätigt Müller. Das Problem: Bei der Abiturprüfung sitzen die Themen dann eben auch nicht. 
Einsiedel weiß, dass sich engagierte Schüler vieles durchaus auch alleine beibringen können. Aber solche ohne Unterstützung blieben auf der Strecke. Sie seien schon während der Coronapandemie abgehängt worden, nun verschärfe der Unterrichtsausfall die Lage zusätzlich, unterstreicht er. 
Hanewald erzählt zudem von Leistungskursen, die zusammengelegt werden. „Bei 40 Leuten bekommt man gar nichts mehr mit“, schildert sie die Situation. Der Nachhilfebedarf sei deshalb sehr hoch. Apropos Nachhilfe: „Es werden bereits Oberstufenschüler gefragt, ob sie in der Unterstufe vertreten wollen.“ Sie selbst habe schon eine Vertretung übernommen – „weil ich selbst Entfall hatte“, sagt sie. 

Bildung multifunktioneller Teams zur Entlastung?

Einsiedel macht darauf aufmerksam, dass sich das Problem in den kommenden Jahren weiter verschärfen werde. Hier, in der Wachstumsregion, werde die Schülerzahl in den kommenden Jahren um etwa 20 Prozent steigen. Hottinger ärgert in dem Zusammenhang, dass Kritiker als Panikmacher verschrien würden. Kultusminister Alexander Lorz beschönige die Situation. Er erkenne die Fakten nicht, meint Stein.
Dabei gebe es durchaus Lösungsansätze, meint Einsiedel. So etwa nennt er die Bildung multifunktioneller Teams, die den Lehrern jene Arbeit abnehmen könnten, die nicht im Vordergrund steht – beispielsweise zwischen Schulsozialarbeit und Lehrern zu koordinieren, die Defizite der Schüler zu benennen, Fälle zu beschreiben und Schüler zu nennen, die begleitet werden müssen. Schulen mit schwierigen Schülern müssten besser ausgestattet und die Klassen verkleinert werden, außerdem die Pflichtstundenzahl gesenkt, die Ausgleichsstunden dafür aber erhöht werden. Gerade der Aspekt der kleineren Klassen sei bei Lehrern und Schülern gut angekommen: „Sie haben sich bewährt“, weiß Muth. Und Müller bekräftigt: „Sie waren bei den Schülern sehr beliebt.“

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