„Versöhnung heißt Erinnerung“

Künstler Gunter Demnig verlegt 25 Stolpersteine, die das Schicksal der Kelsterbacher Juden sichtbar machen

STOLPERSTEINE für die Familie Hirsch spendeten Reiner Kleinlein, Renate Massoth (IGS Kelsterbach), Günter und Anita Lock sowie Jörg Schneider (von links). (Foto: Scherer)

Kelsterbach. Sie waren Mitglieder in Kelsterbacher Vereinen, hatten kleine Läden in der Stadt und waren in Gemeindevorständen aktiv. Als die Nationalsozialisten die Macht ergriffen, wurden sie enteignet und gedemütigt. Doch sie blieben in ihrer Heimatstadt in dem Glauben, es könne ja nicht mehr schlimmer werden. Viele jüdische Familien haben dies mit ihrem Leben bezahlt: Sie wurden deportiert und ermordet oder haben sich aus Verzweiflung das Leben genommen.

An ihr Schicksal erinnern 25 Stolpersteine, die am Montagmittag unter großer Anteilnahme der Bevölkerung, darunter vieler Vereins- und Kirchenvertreter sowie zahlreicher Schüler der Integrierten Ganztagsschule (IGS), von dem Künstler Gunter Demnig verlegt wurden. Musikalisch eröffnet wurde die Aktion von der Musikklasse der IGS, die das jüdische Lied „Donaj, Donaj“ spielte, das in der NS-Zeit entstanden war und die Situation der Juden in Europa thematisiert.
Möglich gemacht hat die Verlegung die Initiativgruppe „Stolpersteine für Kelsterbach“, die sich in der evangelischen Friedensgemeinde nach einem Gedenkgottesdienst zur Schoah gegründet hatte. Dank der großen Spendenbereitschaft vieler Bürger, Vereine und Institutionen konnten die Kosten für die Stolpersteine schnell aufgebracht werden. Unterstützt von Oberstudienrat Harald Freiling und Stadtarchivar Hartmut Blaum wurde das Schicksal vieler Juden in Kelsterbach aufgearbeitet und in einer mehrseitigen Broschüre dargestellt. Viele Bürger und Schüler der IGS haben zudem Patenschaften für die Steine übernommen und werden die kleinen Mahnmale pflegen.
„Das Geheimnis der Versöhnung heißt Erinnerung“, zitierte Joachim Bundschuh ein jüdisches Sprichwort. Auch heute noch sei man auf die Versöhnung derer angewiesen, die unter den Nationalsozialisten gelitten hätten, so der Pfarrer der Friedensgemeinde. Die Stolpersteine erinnerten an ein Unrecht, das einige aktiv unterstützt und viele passiv hätten geschehen lassen.
Dankbar sei man vor allem den vielen Spendern, die eine schnelle Verlegung der Steine möglich gemacht hätten, so Bundschuh. Die Stolpersteine seien ein Appell, dass sich diese Verbrechen niemals wiederholen dürften.
Die Stolpersteine mahnten sowohl die Vergangenheit aber auch die Gegenwart an, erklärte Bürgermeister Manfred Ockel. Auch heute erlebe man leider Rassendiskriminierung und so seien die Stolpersteine auch ein Zeichen dafür, dass man dagegen kämpfen müsse.
„Mit jedem Stolperstein bekommen die Menschen ein Stück ihrer Identität zurück“, sagte Walter Ulrich vom Förderverein Jüdische Geschichte und Kultur im Kreis Groß-Gerau. Mit den Steinen werde aktive Erinnerung betrieben, so Ulrich.
Neben einigen Bürgern haben auch Vereine und Institutionen, wie das Volksbildungswerk, der DGB-Ortsverband, der Magistrat, die Fraktionen sowie alle Kirchengemeinden und Schulen die Stolperstein-Initiative unterstützt. Die Patenschaft für das Mahnmal für die Familie Fleischmann, die in der Bergstraße 1 wohnte, hat die Klasse 7.2 der IGS übernommen. Kein Mitglied der Familie, die ein Polstergeschäft besaß, überlebte den Holocaust. Auch Emma Marx, Schwiegermutter von Moses Fleischmann, wurde deportiert und ermordet.
„Das Schicksal der jüdischen Mitbürger war schlimm, sie waren doch unsere Mitbürger“, findet Janina Seib. Der Holocaust sei Teil der deutschen Geschichte und dürfe nie vergessen werden, so die Zwölfjährige. Diese Stolpersteine wollen Janina Seib und ihre Klassenkameraden pflegen. Sie wohne in der Nähe und werde öfter vorbeigehen, erklärte die Schülerin.
Sichtlich betroffen und teils den Tränen nahe waren die Bürger bei der Verlegung der Steine für die Familie Hirsch, die in der Untergasse 4 eine Metzgerei hatten. Die Familie gehörte zu den ältesten jüdischen Familien in Kelsterbach, deren Geschichte mit am besten dokumentiert ist.
Daniel und Lea Hirsch hatten zwei Kinder, Leo und Lilli. Von Leo Hirsch ist bekannt, dass er als Kerweborsch aktiv war und mit seinem Freund Hans Beck die Leidenschaft für Motorräder teilte. Beck war Mitglied der SA und wurde in der Hetzschrift „Stürmer“ denunziert. Er entschied sich gegen die SA und für die Freundschaft zu Leo Hirsch und brachte seinen Freund, der in die USA emigrierte, zum Bahnhof. Das Schicksal der Familie und die Freundschaft von Leo und Hans sei ihm sehr nahe gegangen, erklärte Jörg Schneider von der Petrusgemeinde, die ebenfalls einen Stolperstein spendete. „Das Juden- und Christentum ist so miteinander verwurzelt, es hätte doch eigentlich Verbundenheit herrschen müssen“, so Schneider fassungslos.
Über Lilli Hirsch ist kaum etwas bekannt, sie schaffte es gerade rechtzeitig, in die USA zu fliehen. Wie schwer müsse es für die junge Frau gewesen sein, ihre Heimat und vor allem ihre Eltern zu verlassen, erklärte Reinhild Kleinlein, die zusammen mit ihrem Mann Hans Jürgen den Stolperstein für Lilli gespendet hatte. Sie habe viel über den Holocaust gelesen und Filme gesehen. „Aber die Patenschaft für einen Stolperstein ist etwas anderes“, betonte Kleinlein. Man entwickle viel Empathie.
Leo und Lilli haben nie wieder etwas von ihren Eltern gehört. Daniel und Lea Hirsch flohen nach Frankfurt, wurden von dort deportiert und in einer ehemaligen Festungsanlage im litauischen Kowno ermordet. Leo Hirsch kam 1979 zum Klassentreffen des Jahrgangs 1912 aus den USA angereist, doch nach dem Schicksal seiner Eltern fragte niemand.
Zehn Jahre später besuchte Leo mit seinem Sohn Dan Kelsterbach. Erst da erfuhr Dan von seiner jüdischen Herkunft und dass er nach seinem Großvater Daniel benannt wurde. Leo Hirsch hatte bis dahin nicht über seine schmerzhafte Vergangenheit reden können. (nad)

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