Tag des offenen Denkmals: Einblicke in Kelsterbacher Sankt Martinskirche

„Ein echtes Kleinod des Klassizismus“

Auf Zeitreise in Kelsterbachs ältester Kirche: Tilman Lichtenthaeler im Glockenturm von Sankt Martin. Foto: Soliman

Kelsterbach – Mit den Worten „Tapfer, dass Ihr etwas über dieses fast 200 Jahre alte Gebäude erfahren möchtet“, begrüßt Tilman Lichtenthaeler am Sonntag das gute Dutzend Zuhörer, das zum Tag des offenen Denkmals in die Sankt Martinskirche gefunden hat. Schon bei einem grundlegenden Exkurs zur Nachkriegsarchitektur deutscher Städte, deren „oberstes Gebot die feuerfeste Stadt“ war, bringt das Kirchenvorstandsmitglied einen wichtigen Punkt an: „Architektur kann, auch wenn sie nicht gefällt, durchaus Geschichte erzählen.“

Unabhängig von persönlichen Vorlieben bei der Gestaltung ist auch die Sankt Martinskirche in ihrer schlichten Geradlinigkeit aus Sandstein ein besonderes Bauwerk, auch wenn sich das möglicherweise erst auf den zweiten Blick offenbart. Nach der Niederlegung der baufälligen Vorgängerkirche war das heutige Kirchengebäude zwischen 1819 und 1823 nach den Entwürfen des renommierten Darmstädter Baumeisters Georg Moller erbaut worden. Passend zum damaligen Zeitgeist, im Nachgang der französischen Revolution mit ihrem Demokratiebestreben, lehnte das aufstrebende Bürgertum die barocke Protzigkeit nicht zuletzt auch aus finanziellen Gründen ab. Das Vorbild war nun das antike Griechenland, dessen schnörkelloses Tempeldesign auch für das Innere von Kelsterbachs ältester Kirche adaptiert wurde.
Stilistisch handelt es sich bei der Kirche Sankt Martin um einen „bürgerlichen Versammlungsraum“ mit sakralen Elementen, der streng symmetrisch ausgerichtet wurde. „Ein Raum wird nicht durch seine Architektur zu einer Kirche. Ein Raum wird zur Kirche durch das, was darin passiert“, betont der Redner mit Verweis auf die Gottesdienstfeiern. Seit der Fertigstellung 1823 sind lediglich geringe Veränderungen an dem Kirchenbau vorgenommen worden. Das im 17. Jahrhundert von einem unbekannten Meister gefertigte Kruzifix, das sich bereits in der Vorgängerkirche befunden haben soll, fand erst 1908 seinen festen Platz im Innenraum. Auch die Buntglasfenster wurden nachträglich, Ende der 1950er Jahre, durch die ortsansässige Künstlerin Marianne Scherer-Neufarth gestaltet und fügten dem strengen Klassizismus, dessen Maxime die Vermeidung von Zierrat war, ein dekoratives Element hinzu.
„Was wir da sehen, ist ein echtes Kleinod des Klassizismus. Wir haben Glück, auch im Alltag ein ganz besonderes Stück Architektur der Zeitgeschichte mit einer Bildsprache zu haben, die ganz ohne Bilder auskommt“, schwärmt Lichtenthaeler, dessen Publikum sich am Tag des offenen Denkmals inzwischen mehr als verdoppelt hat. Eine Besonderheit der Sankt Martinskirche, erfahren die Zuhörer, ist, dass ihr Glockenspiel aus sechs Kirchenglocken besteht, was im Verhältnis zur eher geringen Gebäudegröße eindrucksvoll erscheint. 1823 befanden sich lediglich drei Glocken im Glockenturm, welche den Menschen die Uhrzeit mitteilten, sie vor Feuer warnten und Hochzeiten oder Beerdigungen ankündigten. Zur Differenzierung des Geläuts lag damals der Fokus auf heterogenen Klängen und nicht auf einer harmonischen Abstimmung des Glockenspiels, erläutert Lichtenthaeler.
Nachdem bereits im Ersten Weltkrieg Glocken zur Einschmelzung hatten abgegeben werden müssen und auch der Zweite Weltkrieg „die Kirche ihrer am deutlichsten hörbaren Stimme beraubt“ hat, blieb Kelsterbach lediglich eine Glocke, die erst im Jahr 1951 um zwei mittelalterliche Kirchenglocken ergänzt wurde. Nach zahlreichen Beschwerden aus der Bevölkerung über zu langes und zu häufiges Glockengeläut konnte der Kirchenvorstand seinerzeit den wahren Auslöser für das Ärgernis ermitteln: „Das eigentliche Problem war, dass vorne und hinten einfach nichts zusammengepasst hat“, konstatiert Lichtenthaeler.
Nach einer Spendensammlung wurde die disharmonisch klingende Glocke schließlich außer Betrieb genommen. Während die sogenannte mittelalterliche Pommernglocke seitdem in der Kapelle am Eingang der Kirche ausgestellt wird, wurde das Glockengeläut 1989 von einer hessischen Glockengießerei auf die heute bekannten sechs Glocken aufgestockt. „Seitdem gab es keine Beschwerden mehr“, sagt Lichtenthaeler schmunzelnd – und führt sein Publikum mit den Worten: „Das ist nur ein Bruchteil der Dezibel, die Ihre Ohren an einem durchschnittlichen Clubsamstag ertragen müssen“, zu einer exklusiven Vorführung des Glockengeläuts nach ganz oben, mitten in den Glockenturm. so

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