Mit dem Rad durch die Geschichte

Tour de Kelsterbach: Teilnehmer besuchen historisch einzigartige Punkte

LETZTER HALT UNTERDORF: Spannendes und teils Amüsantes aus der Geschichte Kelsterbachs erzählte der Fahrradbeauftragte René Wollmerstedt (Vierter von links) während der Tour de Kelsterbach. Die Teilnehmer steuerten auf der dreistündigen Radtour viele interessante Orte an, am Ende gab es eine Führung durch das Stadtmuseum. (Foto: Scherer)

Kelsterbach. Warum bewachten einst 200 Soldaten die Waldstraße? Wohin verschlug es die Kelsterbacher, wenn sie zur „Dell“ gingen, und was hat es mit dem „Heißen Sand“ auf sich? Die Geschichten hinter der Geschichte erfuhren die acht Teilnehmer während der Tour de Kelsterbach. Organisiert hatte die Radtour der neue Fahrradbeauftragte der Stadt, René Wollmerstedt.

Es gebe viele Punkt in Kelsterbach, die einzigartig seien, und das wolle er den Menschen näherbringen, erklärte Wollmerstedt, der seit 44 Jahren in der Untermainstadt lebt und oft draußen mit dem Rad unterwegs ist. Einen wissenschaftlichen oder historischen Anspruch habe die Tour nicht.
„Jahreszahlen kann man nachschlagen und jeder sieht das Offensichtliche, nicht aber die Geschichten dahinter“, so Wollmerstedt, der für seine Recherchen mit vielen alten Kelsterbachern gesprochen hat. Den heimatgeschichtlichen Hintergrund holte sich Wollmerstedt bei Mitgliedern des Volksbildungswerks, darunter Hubert Schöggl. Als Dank kamen die drei Euro Teilnahmegebühr der Tour dem Verein für seine heimatkundliche Arbeit zugute.
Erste Station der Tour war das Kelsterbacher „Depot“. Auf dem Gebiet zwischen der Waldstraße und dem Kleinen Kornweg lagen die Unterkünfte und Verwaltungsgebäude des im Ersten Weltkrieg errichteten Nahkampfmitteldepots im Mönchwald. Einige Häuser sind noch erhalten, darunter das ehemalige Pförtnerhaus und einige Wohnhäuser. Dort wohnten die rund 200 Soldaten, die das Depot bewachten. Im heutigen Gemeindehaus der Petrusgemeinde befand sich das Reparaturwerk für Lokomotiven, die auf den Gleisanlagen zu den Munitionslagern in den Wald fuhren.
Das Waffenlager erstreckte sich, verteilt über 208 Bunker und Schuppen, bis nach Walldorf. Darin lagerte Munition aber auch das Giftgas, das im Ersten Weltkrieg von deutschen Soldaten eingesetzt wurde. Die Räumung der Nahkampfmittel zog sich laut Wollmerstedt lange hin. So war vor über 20 Jahren die Okrifteler Straße noch oft abends gesperrt, da die Kampfmittel von Spezialisten entfernt und gesprengt wurden.
Der Rangierbahnhof für die Züge, die zu den Waffenlagern fuhren, befand sich auf einem Plateau nahe des heutigen RWE-Überspannwerks am Staudenweiher, wo die Teilnehmer einen Zwischenstopp einlegten. Das Überspannwerk, einst so groß wie acht Fußballfelder, wurde für den Bau der 2,8 Kilometer langen Landebahn Nordwest verkleinert, die Hochspannungsleitungen unterirdisch verlegt. Die gas-ummantelte Starkstromleitung, die hier unter der Erde liegt, sei bisher in Deutschland einmalig, so Wollmerstedt.
Beliebt als Partymeile war früher ein Teil des Staudenweiher-Ufers. Von dort ging es dann auch schon mal nackt zum Baden in den Weiher – auch daher der Name „Heißer Sand“. Tatsächlich gebe es fein verwehten Sand, außerdem wachse dort auch Heidekraut, da diese Stelle ähnlich der Schwanheimer Dünen einst Schwemmland gewesen sei, erklärte Wollmerstedt.
Weiter ging die Tour zum Taubengrund, wo die 1968 bei einem Großbrand zerstörte Waffelfabrik Flögel stand. „Viele Kelsterbacher haben sich den Waffelbruch geholt, verpackt und weiterverkauft“, erklärte Wollmerstedt.
Über die Brücke am Hinkelstein fuhren die Teilnehmer zur Schwedenschanze, den Überresten einer mittelalterlichen Fliehburg. Bekannt sei die Schwedenschanze auch unter dem Namen „Altes Haus“. Auf dem aufgeschütteten Gelände wurden früher Gesang- und Turnfeste veranstaltet, viele alte Kelsterbacher sagten zu dem Gelände auch „die Dell“.
Weitere Stopps der Tour waren der Ehrenfriedhof und das Denkmal der trauernden Frau, das 1928 als Mahnung an die Opfer des Ersten Weltkriegs in der Mainstraße errichtet und später von den Nationalsozialisten auf den Friedhof versetzt und damit seiner eigentlichen Bedeutung beraubt wurde.
Am Kiosk „Wasserhäuschen“, wo die Teilnehmer kurz stoppten, gab es laut René Wollmerstedt früher eine Waage, wo alle Waren, die über den Main verschifft wurden, gewogen wurden. Von dem Wort treideln, also dem Ziehen der Schiffe durch Zugtiere, stamme auch der Nachname Treutel ab. Weiter galt Kelsterbach einst als „Klein-Heidelberg“ und beliebtes Ausflugsziel für Touristen, die mit dem Dampfschiff anlegten. Viele verschlug es ins Café Einig oder ins Tanzlokal Zur Sonne. Mit Verweis auf die lange Mainmauer erklärte Wollmerstedt auch den Begriff „Maamauer Baabambeler“. Das sei eine Bezeichnung für die Arbeitslosen gewesen, die auf der Mauer eben ihre Füße baumeln ließen.
Im Stadtmuseum im Unterdorf endete die Tour, die bei den Teilnehmern gut ankam. „Wir sind vor fünf Jahren nach Kelsterbach gezogen und wollten etwas über die Stadt erfahren in der wir jetzt wohnen“, erklärte Ulf Thies. Sie seien selbst viel mit dem Rad unterwegs, aber dank der informativen Tour habe man viele Neues gehört, freute sich Silke Thies. (nad)

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