Jüngst aufgetauchte Aufzeichnungen von Friedrich Adler veröffentlicht

"Ganz neuer Blick auf jüdisches Leben in Kelsterbach"

VÖLLIG NEUE ERKENNTNISSE über das Schicksal von Friedrich Adler präsentierte Harald Freiling in der Stadt- und Schulbibliothek, wo er seine neue Broschüre vor rund 40 Zuhörern vorstellte. (Foto: Scherer)

Kelsterbach (nad). Der Anruf kam im Juni 2016. Am Apparat von Stadtarchivar Hartmut Blaum war Rudolf Schallenmüller, deutsche Honorarkonsul in der brasilianischen Stadt Ribeirão Preto. Er habe da etwas, das die Kelsterbacher interessieren könnte: Aufzeichnungen, wohl von Friedrich Adler, der 1910 in Kelsterbach geboren wurde, als Jude vor den Nazis in die Niederlande fliehen musste. Dort wurde er verraten und verhaftet, er starb im KZ Dachau.

Über Familie Adler war wenig bekannt

Harald Freiling, der bereits in den 80er Jahren mit Schülern der Gesamtschule die Geschichte des Durchgangslagers für Zwangsarbeiter im Taubengrund dokumentiert hat und auch in der Stolperstein-Initiative aktiv ist, hat die Aufzeichnungen geprüft und aufgearbeitet. „Das wirft einen ganz neuen Blick auf jüdisches Leben in Kelsterbach“, sagte Freiling vor rund 40 Zuhörern in der Stadt- und Schulbibliothek, wo er sein Heft mit dem Titel „Friedrich Adler. Eine Jugend in Kelsterbach, untergetaucht in Holland, ermordet in Dachau“ vorgestellte. Über die Familie Adler war bisher wenig bekannt. Vor fünf Jahren wurden vor ihrem ehemaligen Wohnhaus in der Rüsselsheimer Straße 25 fünf Stolpersteine verlegt: für die Eltern Hermann und Jenny Adler, die Brüder Friedrich und Julius sowie die Verwandte Katharina Beretz, die 1942 im KZ Theresienstadt starb.

Manuskript kam über einen Zufall nach Kelsterbach

Wie Freiling berichtete, habe es keinen direkten Kontakt zu den Überlebenden gegeben. 1987 hatte eine Schülergruppe der Gesamtschule zu den Schicksalen der Juden in Kelsterbach recherchiert, 1989 waren auf Einladung des Magistrats einige Überlebende und ihre Kinder nach Kelsterbach gekommen. Julius Adler, der rechtzeitig mit seinen Eltern nach Brasilien geflohen war, war da bereits verstorben. Das Manuskript kam über einen Zufall nach Kelsterbach: Rudolf Schallenmüllers Frau Sonia war eine Klassenkameradin von Carlos Alberto Adler, Julius Adlers Sohn. Bei einem Klassentreffen habe Carlos Adler von seinen deutschen Vorfahren und einem Dokument berichtet, das er nicht lesen könne. Schallenmüller habe daraufhin die Stadt Kelsterbach kontaktiert und eine Kopie des Dokuments zur Verfügung gestellt. Grundlage für das deutschsprachige, 92 Seiten umfassende und auf Schreibmaschine geschriebene Manuskript sind handschriftliche Aufzeichnungen in niederländischer Sprache. Wer diese Erinnerungen Adlers aufgeschrieben hat, ist nicht zu hundert Prozent gesichert. Eine Vermutung ist, dass Adler sie seiner Verlobten Elisabeth den Hartog in ihrem Versteck in Holland diktierte. Der Ortsname Kelsterbach, so Freiling, taucht in den Schriften nie auf, Familienmitglieder oder Freunde werden nur mit Vornamen genannt. „Doch alles, was er schreibt, lässt sich eins zu eins in Kelsterbach wiederfinden“, erklärte Freiling. Denn die Schicksale anderer jüdischen Familien sind besser dokumentiert, mit jenen decken sich die Beschreibungen Adlers.

Ausführliche Berichte über den jüdischen Alltag in Kelsterbach

Ausführlich berichtet er von seinem Großvater, Abraham Adler II, Schuhmacher und Vorbeter der jüdischen Gemeinde Kelsterbach, und seiner Großmutter Amalia, die er oft mit seinem Bruder Julius in der Neukelsterbacher Straße besuchte. Ein ganzes Kapitel widmet Adler der Bedeutung der Religion in seiner Familie und wie die jüdischen Feiertage begangen werden – eine Art Vermächtnis, geschrieben als junger Mann, der nicht weiß, ob er überlebt. Sein Vater Hermann Adler hatte in der Rüsselsheimer Straße ein Sportgeschäft, Sohn Friedrich machte eine Ausbildung in der Herrenkonfektionsfabrik Flörsheim & Co in Frankfurt. In seinen Erinnerungen beschreibt er die Kaiserstraße mit ihren Kaffeehäusern, Kabaretts und „publiken Frauen“. Die Familie Adler ist im Kelsterbacher Vereinsleben aktiv, der Bruder im Stenografenverein Gabelsberger, man feiert bei Kerb und Maskenbällen mit. Die Machtergreifung der Nazis 1933 erlebte Adler in Mönchengladbach, wo er in der Zentrale der Konfektionsfabrik arbeitete. Seine Eltern besuchte er oft – auch am 1. April 1933, als jüdische Geschäfte boykottiert wurden und bewaffnete SA-Schergen Wache vor dem elterlichen Geschäft hielten. Wie Freiling berichtete, dachten immer mehr Kelsterbacher Juden an Auswanderung. „Wohin?“, diese Frage stellte sich auch Friedrich Adler. „Und warum das alles? Nur weil man Jude war“, schrieb er. Aus den Dokumenten geht hervor, dass Adler bereits 1936 nach Holland ging – nicht, wie auf seinem Stolperstein vermerkt, 1944.

Erst kurz vor Drucklegung wurde die Gemeinde Heythuysen als letzter Aufenthaltsort des Paares ermittelt

In Nijmegen, später in Dordrecht, eröffnete er ein Bekleidungsgeschäft. Seine Eltern, die Kelsterbach 1939 verlassen hatten und nach Holland geflohen waren, sah er 1940 zum letzten Mal. Für sie hatte der bereits in Brasilien lebende Julius Adler ein Visum besorgt. „Friedrich dagegen fühlte sich in Holland sicher“, so Freiling. Doch nach der Besetzung der Niederlande durch deutsche Truppen und der immer schlimmeren Judenverfolgungen, musste auch er im Juni 1942 nach einem Versteck für sich und einer Verlobte Elisabeth den Hartog suchen, die er 1940 kennengelernt hatte.
Erst kurz vor Drucklegung des Heftes konnte die Gemeinde Heythuysen als letzter Aufenthaltsort des Paares ermittelt werden, denn die schriftlichen Erinnerungen Adlers enden im Oktober 1943. Den entscheidenden Hinweis erhielt Freiling von Gert van Engelen, der sich für die Dokumentation der Stolpersteine in Dordrecht mit Adlers Schicksal beschäftigt hat. So geht aus einem Buch über die verratenen Juden in niederländischen Gemeinden hervor, dass Adler und seine Verlobte 1944 noch einmal das Versteck gewechselt hatten. Am 10. Juni 1944 wurden sie im Haus von Theodor Baetsen und Jacoba Catharina Janssen von „Juden-Jägern“ gefunden und verhaftet. 
Beide wurden ins KZ Theresienstadt und anschließend nach Auschwitz deportiert. Elisabeth den Hartog wurde dort ermordet, ihr Todesdatum ist unbekannt. Friedrich Adler wurde am 10. Oktober 1944 weiter ins KZ Dachau gebracht, wo er starb, möglicherweise durch eine Epidemie. 
Auch wenn die Umstände von der Verhaftung Adlers und seiner Verlobten geklärt wurden, gebe es noch einige ungeklärte Fragen, unter anderem, wie und wann das Manuskript an Julius Adler geschickt wurde. „Aber ich sage niemals nie“, so Freiling, der die Hoffnung hat, dass am Ende vielleicht doch diese letzten Fragen zum Schicksal von Friedrich Adler geklärt werden können.

Wichtiger Baustein in der Geschichte der Stadt

Bürgermeister Manfred Ockel lobte den Rechercheeinsatz Freilings. Die Biografie Friedrich Adlers sei mit der Anne Franks und vieler anderer, verfolgter jüdischer Familien vergleichbar. Die jüngsten Ereignisse in Halle – wo ein Attentäter am 9. Oktober an Jom Kippur eine Synagoge stürmen und die Gläubigen töten wollte – machten deutlich, dass das Sichtbarmachen des Antisemitismus der Nazis wichtiger denn je sei. Die Dokumentation zu Adlers Leben nannte Ockel einen „wichtigen Baustein in der Geschichte der Stadt“. Hartmut Blaum erinnerte daran, dass im März 1945 in den Kommunen Unterlagen über die Verbrechen der Nazis akribisch vernichtet worden seien. Für Historiker sei das, als hätten sie nur 30 Teile eines 1000-Teile-Puzzles zur Verfügung. „Dank Harald Freilings Arbeit sind noch einmal 50 Teile dazugekommen. Aber wir haben noch viel zu tun.“ Das Heft „Friedrich Adler. Eine Jugend in Kelsterbach, untergetaucht in Holland, ermordet in Dachau“ ist gegen eine Spende beim Stadtarchiv erhältlich.

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