Ausbaugegner: „Wir weichen nicht“

Über 8000 Menschen bei Demonstration zum Jahrestag der Landebahn-Eröffnung

MASSENHAFT marschierten die Menschen am Sonntag gegen Fluglärm und Umweltbelastung. Zum ersten Jahrestag der Inbetriebnahme der Landebahn Nordwest kamen nach Angaben der Veranstalter 8000 Menschen in den Kelsterbacher Wald, um am Nordrand der Betonpiste zu demonstrieren. Zuvor hatten bereits einige hundert Menschen an einer Mahnwache vor dem Terminal 1 teilgenommen. (Foto: Tancik)

Kelsterbach. Auf der Okrifteler Straße waren Shuttlebusse unterwegs, gefüllt mit hunderten Demonstranten. Sie kamen auch auf Fahrrädern, Mopeds, Rollerblades und zu Fuß, trugen Transparente mit Städtenamen, Forderungen und Vorwürfen. Da wurden schnell mal Haushaltsgegenstände zu Musikinstrumenten umfunktioniert („Diese Gegend ist im Eimer!“), Ratschen und Trommeln fügten sich zu einer allumfassenden Kakophonie zusammen – nur unterbrochen durch die landenden Flugzeuge auf der Nordwest-Bahn.
 

Vor genau einem Jahr, am 21. Oktober 2011, ging ihr Betrieb los. Seitdem sind tausende Flugzeuge auf ihr gelandet – doch obwohl bereits ein Jahr vergangen ist, treffen sich immer noch jede Woche Demonstranten zu Kundgebungen im Terminal, um gegen diesen Zustand zu protestieren. Das Bündnis der Bürgerinitiativen nutzte den ungeliebten Geburtstag der Nordwest-Landebahn für eine Kundgebung an der Nordseite des Mönchwaldtunnels, auf der Kelsterbach zugewandten Seite der Landebahn.
Trotz der Herbstferien war der Andrang groß. Die Veranstalter rechneten mit drei- bis fünftausend Demonstranten – letztendlich waren es laut ihren Schätzungen über achttausend Menschen, die sie mobilisieren konnten. Das führte laut Michael Wilk, Mitglied des Organisationsteams des Bündnisses der Bürgerinitiativen, zu Staus und somit auch zu Irritationen auf dem Flughafen: „Jetzt rücken wir ihnen mal auf die Pelle.“ kommentierte Wilk die von Ausbaugegnern verursachten Staus auf den Zufahrten.
Weitab, direkt an der Nordwest-Landebahn, sammelten sich die Demonstranten. Dabei waren viele Familien, aber auch Jugendliche und Senioren – alles Bewohner, die die Wut gegen den Lärm einte. Sie trugen Hörschutz und Ohrenstöpsel, hatten lustige Hüte mit Flugzeugen auf dem Kopf. Irmgard Beck aus Mainz-Laubenheim hatte eine große Puppe gebaut. Vor dem Ausbau, erzählt sie, hat sie nur an 30 Prozent des Jahres Fluglärm abbekommen. Jetzt ist sie jeden Tag mit dem Lärm konfrontiert – 18 Stunden am Tag. „Das ist brutal. Ich habe keine Pause mehr, und selbst nach einem Jahr habe ich mich an diesen Ton nicht gewöhnt“, berichtete sie. Inzwischen hat sie an sich beobachtet, dass sie ähnlich klingende Töne sofort mit Fluglärm assoziiert: „Mein Gehirn kann einfach nicht mehr abschalten.“
Ähnlich geht es dem Ehepaar Heinz Kropf und Lena van Speybroeck aus Hochheim. Sie haben einen wunderschönen Garten direkt an den Weinbergen und können ihn nicht mehr genießen. „Selbst wenn ich mich mittags raus setze, halte ich es nur kurz aus. Es fühlt sich an, als hätte ich zu viel Kaffee getrunken“, beschrieb van Speybroeck. „Seit dem Ausbau hat sich schlagartig alles verändert.“ Ihr Mann ist Architekt und verfolgt in seiner Kritik einen anderen Ansatz. Er hat Landkarten studiert und schätzt den Ausbau als eine unglaubliche Fehlplanung ein. „Das ist der eigentliche Skandal. Dass Fachleute so etwas planen und umsetzen – auch wenn es vielleicht unter Druck geschah“, vermutete er, und hat sich in einem persönlichen Schreiben bereits beim Regierungspräsidium beschwert. Von Anfang an war das Ehepaar bei den Demonstrationen mit dabei und hofft auf die Einsicht der Betreiber.
Auf dem Kundgebungsplatz hatte das Organisationsteam eine Bühne aufgebaut. Von weitab war Musik zu hören: „Die Mediation war blanker Hohn!“ Neben vielen Sängern kamen aber auch wichtige Redner auf die Bühne, unter ihnen John Stewart, der Vorsitzende der Organisation HACAN ClearSkies, der mit seinem Widerstand den Ausbau des Londoner Flughafens Heathrow stoppte. „Niemals zuvor sind die Proteste so lange nach der Inbetriebnahme einer Bahn weitergegangen“, lobte Stewart und führte Beispiele an, in denen der Widerstand Pläne verhindert hat, zuletzt in München.
Einen Überblick über alle Argumente gab Heiko Holefleisch von der Bürgerinitiative Mainspitze. Auch er kam auf den starken Protest zu sprechen und suchte nach Gründen: „Wir sind das Herz der Region. Wir haben hier unsere Wurzeln. Deshalb weichen wir nicht.“ Er kritisierte die Umverteilung von Lärm und Dreck und prangerte das Argument von der Jobmaschine Flughafen an. „Wer Airlines und Destinationen zählt wie Trophäen, wer sich an Mega-Hubs, Cargo-Tonnen und Drehkreuz-Passagieren berauscht, der leistet keinen Beitrag zu Wohlstand, Fortschritt und Zukunft“, schloss Holefleisch. Zum Gedenken an beteiligte Politiker setzte er ihnen ein Denkmal: Die Nordwestbahn taufte er in „Roland-Koch-Ruine“ um, die beiden Rollwege über die A3 „Bilfinger“ und „Berger“, die Shopping-Malls „Bouffier-Boutiquen“. Er rief zum Protest gegen das Terminal 3 auf.
Erwin Stufler vom BBI war sehr zufrieden mit der Resonanz der Demonstration zum Jahrestag. „Trotz der Herbstferien kamen so viele Leute. Der Protest ist da und wird immer größer.“ Er und das Organisationsteam seien bemüht, eine sachliche Debatte zu führen und diese nicht zu emotionalisieren. Er hofft außerdem, durch die Demonstrationen Gesetze und Richtlinien verändern und verschärfen zu können. „Früher war der Schwarzbach schwarz wegen der Abwässer der Industrie. Als die Gesetze nachhaltiger gestaltet wurden, hörte das auf, und der Bach ist heute wieder fast klar“, führte Erwin Stufler als Beispiel an. Er kritisierte, dass 45 Prozent aller Flüge 500 Kilometer und weniger umfassen und deshalb vermeidbar wären. Ein Ende der Kurzstreckenflüge würde schon eine enorme Entlastung bedeuten. Bis dahin dürfte der Protest weitergehen – und die drei Stewardessen aus Flörsheim singen weiter über den „Skandal im Rhein-Main-Gebiet“. (nta)

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