Mörfelden-Walldorf: Blindenreporter kommentieren Fußballspiel bei Rot-Weiß

Beschreiben, was andere nicht sehen können

Nadine Merken und Björn Naß haben als Blindenreporter von Fußball-Bundesligavereinen beim Inklusionsspieltag das Geschehen auf dem Platz in Walldorf für blinde Menschen erlebbar gemacht.         Foto: ula

Mörfelden-Walldorf – Als am Sonntagnachmittag das Hessenligaspiel Rot-Weiß Walldorf gegen den Tabellenzweiten KSV Baunatal angepfiffen wird, sitzen die Fans erwartungsvoll auf der Tribüne. Zwei Ehrengäste haben sich mit ihren Begleitern ein Plätzchen an der Mittellinie gesucht: Gerd Rossignol ist extra aus Höchst im Odenwald angereist, wird von dem Spiel jedoch nichts sehen. Der Odenwälder ist blind – wie auch sein Sitznachbar Udo Hartmann aus Hanau. Beide wurden vom Verein jedoch eingeladen, um mitzufiebern. Das hautnahe Erlebnis für Nichtsehende zu transportieren, dafür ist Blindenreporter Björn Naß mit seinem Team und Technik angereist.

Der bundesligaerfahrene Moderator ist Vollprofi: „Es gibt nichts, was man nicht beschreiben kann“, sagt Naß, der regelmäßig Spiele von Bayer Leverkusen, den Kölner Haien (Eishockey), sowie Handballspiele moderiert, aber auch Rosenmontagsumzüge per Audioreportage erlebbar macht – die Events werden zudem live übertragen, sodass sehbehinderte Menschen auch vom Sofa aus dabei sein können.
Seine Zuhörer in Walldorf werden mit Kopfhörern und Empfänger ausgestattet, dann wird die Sonntagspartie auch schon angepfiffen. Es ist nichts für schwache Nerven. Auf dem Kunstrasenplatz halten sich die Mannschaften nicht mit verhaltenem Beschnuppern auf – schon nach drei Minuten liegt der KSV Baunatal mit 1:0 vorn. Doch schon zwei Minuten später können Udo Hartmann und Gerd Rossignol jubeln. Kapitän Benedikt von Hagen erzielt den Ausgleich für Walldorf. Reporter Björn Naß berichtet mit flinker Zunge, was sich einem nicht sehenden Menschen visuell nicht erschließt.
Das spannende Spielgeschehen weiß Naß geschickt in seine Moderation zu übertragen – und nimmt sein Publikum hautnah mit. 
Es ist der erste Inklusionsspieltag beim SV Rot-Weiß. „Walldorf Live aufs Ohr“, das Motto ist selbsterklärend. Wer sich auf das Thema einlässt, wie Erster Stadtrat Karsten Groß, der sich ebenfalls mit Kopfhörern ausrüsten lässt, dem eröffnet sich hier die Sichtweise auf ein neues Feld: Das Erlebnis Fußball für Nichtsehende sichtbar zu machen. Für den passionierten Fußballfan Gerd Rossignol eröffnet die Blindenreportage die Chance, trotz des fehlenden Augenlichts teilzuhaben. „Ich reise durch die ganze Republik“, sagt der Odenwälder begeistert.
Blindenreportagen sind bei vielen Bundesligaspielen inzwischen Standard. Bei Bayer Leverkusen gibt es 60 Ticketanfragen Sehbehinderter pro Spiel. „Bei den Kölner Haien haben wir mit zwei Tickets angefangen, jetzt sind ein Dutzend Menschen dabei“, sagt Naß. 95 Prozent der Reporter arbeiten ehrenamtlich. Björn Naß hat sich auf diesem Feld selbstständig gemacht und ist zwischenzeitlich auch Ausbilder. Über seinen Bruder, Birger Naß, der Co-Trainer in Walldorfs Hessenligateam und Geschäftsführer des Spieltagsponsors Football-in-your-life gGmbH ist, kam der Kontakt zum SV Rot-Weiß zustande.
„Im Durchschnitt begrüßen wir 250 bis 300 Gäste bei unseren Hessenliga-Heimspielen“, erklärt Rot-Weiß-Präsident Manfred Knacker, der sich diesmal besonders über die beiden auswärtigen Gäste freut. Die bekommen noch ordentlich Grund zum Jubeln. „Baunatal wird ein Stück Arbeit“, hatte Gerd Rossignol vorm Anpfiff erklärt. Doch Rot-Weiß steckt nicht auf und gewinnt die Partie mit 5:2. Besonders Kapitän Benedikt von Hagen befördert die Fans durch ein Wechselbad der Emotionen. Nach einem verschossenen Elfmeter gelingt ihm noch ein lupenreiner Hattrick.
All das hat Björn Naß professionell beschrieben – zusammen mit Nadine Merken. Sie ist eine von 180 Blindenreportern in Deutschland (und eine von vier Frauen) und übernimmt im Wechsel das Mikro. Gesehenes zu beschreiben, zu kommentieren verlangt dem Reporter hohe Konzentration, blitzschnelles Umschalten und logischerweise eine schnelle Zunge ab. Nadine Merken, lange Zeit bei Eintracht Frankfurt im Einsatz, liebt ihr Ehrenamt: „Ich möchte nicht, dass ein Mensch nicht teilhaben kann – aber es gibt mir auch viel“, erklärt die junge Frau. Ihr Ausbilder Björn Naß wünscht sich mehr Frauen, die sich zur Blindenreporterin schulen lassen. Besondere Voraussetzungen brauche es nicht. „Ich nehme auch Quereinsteiger“, sagt Naß, der von einem außergewöhnlichen neuen Reportertalent berichtet, „er ist sonst Schließer in der JVA.“ 
Auf dem Rot-Weiß-Platz wird an diesem Nachmittag ein wenig bekanntes Thema sichtbar gemacht. Für die blinden Fußballfans endete der Ausflug mit einem Happy-End: Rot-Weiß Walldorf schnappte sich drei Punkte und rückt in der Tabelle auf den zehnten Platz vor. ula

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