„Komm heim und flick die Pumpe“

Lesung von Feldpostbriefen aus dem Ersten Weltkrieg machte Geschichte greifbar

AUF EINE ZEITREISE gingen am Sonntag rund 120 Besucher im Mörfelder Heimatmuseum. Eine inszenierte Lesung von Feldpostbriefen aus dem Ersten Weltkrieg machte Geschichte greifbar. Briefe für den Vater an der Front schrieben die Kinder der Familie Geiß: Fritz (Tim Schwappacher), Gretchen (Lilli Schmidt) und Marie (Elea Achenbach). (Foto: Schmidt)

Mörfelden-Walldorf. Auf eine Zeitreise gingen am Sonntag rund 120 Besucher im Mörfelder Heimatmuseum. Eine inszenierte Lesung von Feldpostbriefen aus dem Ersten Weltkrieg machte Geschichte greifbar.

Aus unzähligen Karten und Briefen, die zwischen den Soldaten aus Mörfelden oder Walldorf und ihren Familien im Ersten Weltkrieg hin- und hergingen, hatte Museumsleiterin Cornelia Rühlig eine Auswahl für die Lesung zusammengestellt. Im Saal des Heimatmuseums erhielten Interessierte so einen Einblick in die Lebenswelt der Soldaten und der Daheimgebliebenen. Mit historischen Erläuterungen rückte Rühlig die einzelnen Briefe in den zeitgeschichtlichen Zusammenhang. Schauspielerin Barbara Englert las Texte von Ernst Toller und Klabund.
Der „Hurra-Patriotismus“ beim Ausbruch des Krieges sei schnell umgeschlagen, erklärte Rühlig. In der Feldpost finde sich keine Kriegsbegeisterung – vielmehr dominierten das Erschrecken und die Angst. Vielfach komme zum Ausdruck, dass die Soldaten keinen Sinn im Krieg sahen. Der 1. August 1914, der Tag, an dem die ersten Männer in den Krieg zogen, habe ein Abschiednehmen und Weinen gebracht, wie kaum jemals zuvor.
Bereits im Herbst 1914 wurde der Mörfelder Spenglermeister Wilhelm Schwappacher eingezogen. Aus seinen Briefen las Katja Englert. Dadurch, dass die Leser im Museumsraum zum Teil in den Ecken im Gebälk positioniert waren, kamen ihre Stimmen für die Zuhörer von oben und hinten – tatsächlich wie aus einer anderen Zeit.
Der Spenglermeister als dreifacher Vater versuchte in seinen Briefen vor allem, die Familie zu beruhigen. Für die Soldaten wurden die Briefe häufig zum Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens. „Das sind meine Sonnenstrahlen“, schrieb Schwappacher.
Besonders die Korrespondenz des fünffachen Familienvaters Wilhelm Geiß mit seiner Ehefrau und seinen Kindern trieb so Manchem im Publikum die Tränen in die Augen. Etwa 400 Briefe und Karten umfasst der Feldpostbestand der Familie. Der Mörfelder Schutzpolizist Geiß war 1914 in Galizien eingesetzt. 1916 kam er in russische Gefangenschaft und kehrte 1918 verletzt nach Hause zurück.
Sehr lebensecht spielten Mörfelder Kinder die Geiß-Kinder und lasen die bewegenden Briefe. So saß der siebenjährige Fritz (Tim Schwappacher) mit seiner großen Schwester Margarethe (Lilli Schmidt) am Tisch und überlegte, was er dem Vater schreiben könnte. Der Kleine berichtet schließlich stolz von seinen Fortschritten im Rechnen. Die große Tochter schreibt von ihrer Konfirmation. Alle Kinder, auch die neunjährige Marie (Elea Achenbach), drücken in den Briefen die Sehnsucht nach dem Vater aus.
Für die Mutter Margarethe Geiß (Julia Achenbach), nahm die Arbeit überhand. Alle paar Tage schickte sie Pakete an den Ehemann, mit Wurst und Fleisch aus eigener Schlachtung, mit Fett und sauberer Wäsche. Geheime Briefe, die nur für sie und nicht für die Ohren der Kinder bestimmt waren, fand sie in den Socken, die ihr Mann ihr zum Waschen schickte.
Wilhelm Geiß (Dirk Achenbach) schilderte der Familie die Lage der Soldaten. Heimgesucht von Läusen, umgeben von Ratten und Mäusen, fristeten die Männer ein elendes Dasein. Immer in Alarmbereitschaft, die Kugeln schwirrten um ihre Köpfe. „Wenn wir hier lange bleiben müssen, verfrieren und verfaulen wir am lebendigen Leibe“, schrieb er.
Die Briefe des elfjährigen Sohns Karl (Ole Knodt) zeigen, wie schwierig es war, ohne den Vater zurechtzukommen. In fast jedem Brief schrieb er, dass das Elend doch bald ein Ende haben müsse. Er übernahm Verantwortung und las Zeitung, um den Überblick über das Kriegsgeschehen zu wahren. Auch er sehnte die Rückkehr des Vaters herbei: „Mach nur jetzt einmal, dass Du heim kommst und unsere Pumpe flickst. Sonst müssen wir unser Wasser lebenslänglich über die Gasse holen“, schreibt er im April 1916. „Ich muss hier im Graben stehen und kann nicht helfen. Das ist zum toll werden“, so die verzweifelte Antwort des Vaters.
Nachdenklich stimmten die Lieder, die Bodo Kolbe zur Gitarre sang. Im Volkslied „Richtig ist der Krieg gekommen“ zogen die Soldaten 1914 stolz in den Krieg „In der schönen, in der neuen, grauen Felduniform“. Am Ende hieß es dann im musikalischen Resümee lakonisch „Ach was hab’n se uns verhauen – in der schönen, in der neuen, grauen Felduniform.“  (evs)

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